Der Wolf findet Schutz beim Lamm,
der Panther liegt beim Böcklein.
Kalb und Löwe weiden zusammen,
ein kleiner Junge leitet sie.
Jesaja 11,6
Vor einigen Jahren traf ich eine alte Dame, die deutlich gebeugt, gestützt auf ihren Rollator Einkäufe machte. Wir standen an einem Regal mit Weihnachtssachen. Nicht wenige Wachskerzen aus dem Sonderangebot des Tages waren bereits vorne in ihrem Korb. Sie blickte kurz zu mir auf und sagte: „Wissen Sie, mit Weihnachten habe ich eigentlich nicht viel am Hut. Aber an Weihnachten kommt ja keiner vorbei.“
Das ist sicher eine zutreffende Feststellung, denn ob Atheist oder Christ, Tannenzweige, Weihnachtsmärkte, Adventskränze, Lichterketten und für die Kinder die Krippe als Deko auf der Fensterbank oder unter dem Weihnachtsbaum, das gehört einfach zum Monat Dezember dazu wie der Nieselregen, den man sich eigentlich lieber als romantische Schneezugabe wünscht.
Alles das und noch viel mehr an Weihnachtsthemen hat mit der im Hintergrund stehenden biblischen Botschaft kaum etwas zu tun. Rund dreihundert Jahre haben die ersten Christen Weihnachten gar nicht gefeiert. Doch glaubten sie schon lange, auch im alttestamentlichen Buch Jesaja, Hinweise auf die Hauptperson von Weihnachten zu entdecken, also auf Jesus von Nazareth, geboren in Bethlehem. Doch der Prophet des Monatsspruchs war nicht nur 700 Jahre von den Ereignissen in Bethlehem entfernt, sondern passt mit seiner Aussage zu keiner Krippe: Ein Wolf zwischen Esel, Kalb, Lamm und Rind, das ist doch letztlich die Aufhebung und Umkehrung dessen, was in dieser Welt gilt! Diese Utopie ist sogar mehr als undenkbar: Schafe die Wölfe beschützen und Löwen, die ihre Raubtiernatur ablegen, sogar zu Pflanzenfressern werden und mit Kälbern weiden??? Das klingt buchstäblich fabel-haft. Die Realität sieht, wie wir alle wissen, ganz anders aus.
Also wovon redete der Prophet eigentlich, der ja nun mal kein Science‑Fiction‑Autor war, sondern der Beauftragte Gottes?
Der amerikanische Maler der sog. naiven Kunst und Pastor Edward Hicks (1780-1849) (s. Bild Wikipedia CC) war nur einer von vielen Kunstschaffenden weltweit, der die biblische Botschaft in Bildern umsetzte, so auch diese Vision des Jesaja. Aber wie die Welt wirklich funktioniert, erforschte Hicks Zeitgenosse Charles Darwin (1809-1882), ein weltbekannter Biologe. Dessen nicht unumstrittenes Ergebnis beschreibt ein Grundgesetz des Lebens: den „Kampf ums Dasein“. Um in dieser Welt zu bestehen und über die Nachkommen bestehen zu bleiben, geht es letztlich um die Durchsetzung des persönlichen Vorteils mit allen Mitteln. Das andere dabei auf der Strecke bleiben gilt als unvermeidbar und normal. Typisch tierisches Verhalten, denn einen Wolf kümmert das Leid des Schäfchens nicht.
Dass dieses Verhalten jedoch keineswegs auf das Tierreich beschränkt ist, behauptete auch schon der Philosoph Thomas Hobbes im 16. Jahrhundert. „Der Mensch ist des Menschen Wolf“, so stellte er fest. Wir würden ihm angesichts eines Sozialstaates mit Menschenrechten und Gesetzen natürlich entschieden widersprechen. Doch Hobbes Kritiker sind sicher in unseren Zeiten ein wenig stiller geworden, da die moralische Menschlichkeit wieder einmal in den Kanonen eines Krieges im Jahr 2022 verdampft und mit ihr viele Rechtsordnungen und Verträge, die doch die Menschen angeblich über die Tiere stellen.
Nichts anderes hat einst Jesaja erlebt als sein Land um 720 v.Chr. von der damaligen Weltmacht Assyrien buchstäblich niedergewalzt wurde und 45 Städte des alten Nahen Ostens im Staub und Leid des Krieges untergingen, wie die Archäologen ermittelten.
Jesaja würde der heutige Zustand der Welt wahrscheinlich nicht sehr überraschen. Den Leidenden seiner Zeit beschrieb er Gottes neue Welt, die allem Leid einmal ein Ende setzen und die Verhältnisse allen Lebens umkehren wird.
Das ist aber keine Vertröstung auf einen fernen Himmel, sondern der Hinweis auf ein weltveränderndes „Programm“ des Gesandten Gottes, der zum Christus wurde. Das aber ahnt Jesaja nur wie im Traum, während Christen heute glaubend wissen dürfen, dass ER mit seinem Evangelium gekommen ist! Und es ist ein Evangelium für d i e s e Welt!
Dennoch muss man mit Weihnachten und was daraus wurde „nicht viel am Hut haben“. Aber das Fest erinnert daran, sich um Jesus Botschaft des Friedens auf Erden zu kümmern, denn an ihm „kommt keiner vorbei“, auch nicht im
Dezember Anno Domini 2022
© D.E.